Nietzsches geflügelte Worte

oder wie Aussprüche eines Philosophen, der nichts unversucht ließ, durch seine Philosophie das Schicksal der Menschheit zu bestimmen, noch nach 100 Jahren im „deutschen Volke" wirken.

Der Gedanke,

„dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe",


war für Nietzsche „der große Befreier". Er ließ ihn seinen Beruf als Basler Philologe aufgeben und als philosophischer Einzelgänger mit all den damit einhergehenden Härten fortleben. In der Unterordnung des Denkens unter Berufs- und Familienzwänge, aber auch in den moralischen Vorstellungen und den Religionen sah er ein Hindernis für die Suche nach der Wahrheit:

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen"
 
 – war seine Überzeugung. In der Lüge ist die Wahrheit immer noch als gewußte unterstellt und nicht verschwinden gemacht wie in der moralischen Rechtfertigung von Zuständen oder Taten. Er hat auch erklärt, wie einer, der sein Tun ständig an Überzeugungen mißt und sich in diesen einrichtet, zu einem moralisch einwandfreien Selbstbild kommt:

„‘Das habe ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‘Das kann ich nicht getan haben’  – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich  – gibt mein Gedächtnis nach."

In zwei Zeilen gibt Nietzsche hier eine Lehre, die Sigmund Freud in zahlreichen Büchern als Verdrängung beschrieben hat. Weil Überzeugungen in Form von Staatsdoktrinen, Welt-anschauungen, Religionen allgemein gelten, ging Nietzsche aufs Ganze und unterzog überkommene metaphysische Vorstellungen, besonders die christliche Lehre, einer psychologischen Analyse. Ihrer verborgenen Wahrheit versuchte er dabei methodisch durch die

„Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten"

auf die Spur zu kommen. Die experimentelle Rückführung traditioneller Vorurteile auf die Selbstbilder der Individuen schien ihm konkreter, redlicher und näher an der Wahrheit als deren Ausarbeitung zum System, die er bei der Mehrzahl seiner Philosophen-Kollegen erblickte:

„Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit".

Dargestellt hat er seine Gedankenexperimente in der Form des Aphorismus, die sich der systematisierenden Ableitung aus dem Begriff sperrt und Widersprüche nicht scheut. Die anschauliche, metaphernfreudige, rhythmisch geprägte, pointenreiche und gedächtnisfreundliche Darstellungsart Nietzsches befremdete zunächst Fachkollegen, verschaffte ihm aber bald eine interessierte Leserschaft unter Literaten, Musikern und Künstlern. Nietzsches Wirkung auf sie setzte oft ein mit der Lektüre des in Bildern und Gleichnissen redenden „Zarathustra" oder der frühen moralkritischen Schriften. Vor allem die Figur des „freien Geistes", des von den Zwängen gesellschaftlicher Vorstellungen befreiten Außenseiters bot für sie die Möglichkeit einer Identifikation. Der von Fachjargon freie Stil, die Artistik in Theorie und Darstellung, die Lizenz, der etablierten Moral mit einer abweichenden Meinung kritisch zu begegnen, sowie die Vorstellung einer außerordentlichen öffentlichen Bedeutsamkeit und Wirksamkeit beflügelte die Aufnahme bei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Hofmannsthal und Morgenstern, George und Musil, Mahler und Strauß, Shaw und Proust, Dix und Klee, Klinger und Beckmann, De Chirico und Munch, Benn und Rilke, Thomas Mann und Kafka, Heinrich Mann und Hamsun und vielen anderen. Bereits hier zeigt sich, was an der späteren Geschichte seiner Wirkung deutlich hervortritt: Der Vorzug dieser Darstellungsweise wurde auch zum Problem ihrer Aufnahme bei den Lesern. Die so einprägsamen Formulierungen Nietzsches verloren bei Leuten, deren Denken sich aus den unterschiedlichsten Weltanschauungen und Ideologien nährte, ihren Versuchscharakter. Aus dem Zusammenhang der „Experimental-Philosophie" gelöst ließen sich Nietzsches Formeln unschwer dem jeweiligen System zu-  bzw. der jeweiligen Weltanschauung einordnen. Dieser durchs Mißverständnis veranlaßte Mißbrauch wurde schließlich während der NS-Zeit offiziell. Nietzsches Sprüche, Aphorismen und Werke wurden, wie es der Untertitel für den „Zarathustra" ankündigt, nun wirklich „für alle und keinen".

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Gerade ihrer Einprägsamkeit wegen hat sich für Nietzsches Äußerungen früh schon ein Wirkungs-bereich jenseits der Literatur in der Öffentlichkeit aufgetan: die mündliche Kultur des erbaulichen Gesprächs, des religiösen Zweifels, der politischen Konkurrenz, der weltanschaulichen Polemik usf. Was sich hier von Nietzsche festgesetzt hat, wurde zuerst wiederum literarisch dokumentiert in Georg Büchmanns „Geflügelte Worte, Zitatenschatz des deutschen Volkes". Büchmann sammelte und kommentierte Zitate, deren Urheber nachweisbar waren und deren dauernder allgemeiner Gebrauch für ihn fest stand. In den Ausgaben 1900 bis 1945 wurde wenig, in denen bis 1998 nicht viel geändert, zuletzt der Untertitel der Sammlung in „der klassische Zitatenschatz", weil er sich auf historisches Material beschränkt und die nationalen Grenzen nicht mehr akzentuieren will. Die in Nietzsches Todesjahr erschienene Ausgabe benennt: Übermensch (Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll) („Also sprach Zarathustra" u. a.);  Jenseits von Gut und Böse (Werktitel);  Herren-Moral und Sklavenmoral ( „Jenseits von Gut und Böse");  Herdentier-Moral (ebenda) ; blonde Bestie („Genealogie der Moral").  1910 sind hinzugekommen: Der Wille zur Tat („Richard Wagner in Bayreuth");   Menschliches Allzumenschliches (Werktitel); Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte (Entwurf eines Werktitels). Nach 1945 wurden hinzugefügt: Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen, Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne! („Also sprach Zarathustra"); Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht! (ebenda); Gelobt sei, was hart macht (ebenda); Moralprediger („Die Fröhliche Wissenschaft"); Moralin („Antichrist"). In neueren Ausgaben (zuletzt 1998) erscheint auch Gott ist tot („Also sprach Zarathustra"). Zum „geflügelten Wort" wurden also überwiegend Äußerungen der Zeit nach 1882, der Periode der konstruktiven Entwürfe.
Daß solche Sprüche Nietzsches bereits 1900 zu allgemein gebräuchlichen Wendungen geworden waren, bedeutet sicher nicht, daß das „deutsche Volk" sich seine Moralkritik zueigen gemacht hätte, eher schon, daß es keine Mühe hatte, Nietzsches Formeln für traditionelle Vorstellungen nutzbar zu machen. Die Nachweise Büchmanns führen sie auf die Texte zurück und nennen womöglich Quellen und Vorbilder, lassen aber die unterstellte Veränderung des Sinns meist unangetastet. Doch der Reihe nach:

  – Der Wille zur Tat: Weshalb diese ausdrückliche, tautologische Hervorhebung einer im Willen unterstellten allgemeinen Absicht zu Handeln? Der Kommentar von 1910 verweist dazu auf eine Thronrede Kaiser Wilhelms II zur Neuwahl des Reichstags 1907 als Beleg des Zeitgeistes. Diese offen nationalistische Vereinnahmung durch den Büchmann-Herausgeber wurde in späteren Auflagen durch den Hinweis auf den Gebrauch dieser Wendung bei Schopenhauer ersetzt. Nietzsche charakterisiert damit in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung die von der Universalität seiner Bildung nicht gestörte Kreativität Richard Wagners, bezieht sich also auf kulturspezifische Hemmungen des Willens.
 
– Menschliches Allzumenschliches: Der Titel der 1878/79 erschienenen Schrift gilt als Entschuldigung schlechthin für verständliche Entgleisungen des Anstands, für alles, was  – in Grenzen  – gegen das Gute, Wahre und Schöne verstößt und der „tierischen" Natur des Menschen zugerechnet wird wie Rülpsen und Furzen.  – Nietzsche dagegen bezieht sich gerade auf den Idealismus des Wahren, Guten und Schönen, der ihm zuwider war. Das Verhalten moralischer Menschen ließ für ihn Rückschlüsse auf ihre Ideale zu. Ein Mensch, der sich an Idealen orientiert, behandelt sich nach Nietzsche  „nicht als individuum, sondern als dividuum", handelt also nach zweierlei Maß: seinem Bedürfnis und dessen Einschränkung. Er kommt zu einem „guten Gewissen" über die Selbstverleugnung oder indirekt über die Reue. Diese „Selbstzerteilung" ist nach Nietzsche nicht als Mißbrauch der Moral zu verstehen, weil die Verdopplung zur Moral gehört. So unterstellt das Hochhalten des Altruismus im Prinzip den Schaden des Selbstlosen und das Akzeptieren dieses Schadens, also den Egoismus. Die Virtuosität im Umdeuten, des „Übels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird" (der Schwäche zum Verdienst, der Ohnmacht zu Güte, der Niedrigkeit zur Demut, der Unterwerfung zum Gehorsam) verstand Nietzsche als Kulturkrankheit, als Behinderung erkenntnisbestimmter Betätigung, deren Ausprägung er besonders der Religion anlastete: „Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Übel ins Auge".
 
– Übermensch: Büchmann kommentiert hier am ausführlichsten und weist begriffliche Entsprechungen von Homer bis Goethe und Otto Julius Bierbaum nach. Gleich zu Beginn erwähnt er, in welchem Sinn dieser Begriff in Deutschland „geflügelt" wurde: die Vorstellung eines rücksichtslosen Gewaltmenschen. Mit Hilfe des vollständigen Satzes aus dem Zarathustra: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll." macht Büchmann dagegen geltend, es handle sich hier nicht um den Vertreter einer „Herren-Moral",  vielmehr „nur" um „eine höhere, ideale Stufe des Menschen". Diese mit dem Idealismus gebildeter Leser kalkulierende Richtigstellung hat keinen der vom jeweiligen Zeitgeist inspirierten Benutzer dieses Worts davon abgehalten, seiner „geflügelten" Version den Vorzug zu geben. Sie sehen in ihm den „ästhetisierenden Athleten" oder gar den „Prototyp einer ‘Herrenrasse’", wie sich noch der Herausgeber der kritischen Ausgabe Mazzino Montinari beklagt, oder  – vom entgegengesetzten moralischen Urteil diktiert  – einen präpotenten Popanz , den keine Bescheidenheit ziert. Der Geschmack an der positiven Verwendung dieses Ausdrucks ist in jüngerer Zeit als Folge einer gelungenen Entnazifizierung des Vokabulars geschwunden.
 
– Jenseits von Gut und Böse: Auch diese Wendung hat sich der bürgerliche Alltag assimiliert. Schlimm: einer wird nicht mehr ernst genommen, weder geistig noch sexuell, er ist ausgegrenzt; angenehm: einer ist außer Konkurrenz und kann sich einiges herausnehmen. Jenseits von Gut und Böse befindet sich also der Beurteilte nicht der Beurteilende. Dagegen pflegte Nietzsche die Hoffnung, mit der Destruktion moralischer Ideale sich und anderen ein Feld erkenntnisbestimmten Tuns zu eröffnen: „’moralische Vorurteile’[Untertitel der Schrift Morgenröte], falls sie nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung außerhalb der Moral voraus, irgendein Jenseits von Gut und Böse" heißt es gegen Ende seiner „Fröhlichen Wissenschaft". Diese Position hat Nietzsche, wie im folgenden Punkt deutlich wird, auf merkwürdige Weise bezogen:
 
– Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte: Ehe Montinari nachwies, daß der hier angedeutete Gedanke in den von Nietzsche unter anderen Titeln veröffentlichten Werken ausgeführt wurde, galt „Der Wille zur Macht" auch Büchmann als ein  „1886 begonnenes, nicht vollendetes Werk". Die rechtsradikale Schwester des Philosophen war vom  Titel „Wille zur Macht" so begeistert, daß sie aus Nachlaßnotizen, die nicht ins Werk eingegangen waren, ein Buch Nietzsches schneiderte, mit Erfolg vermarktete und die Meinung des zunächst von Bismark und Kaiser Willhelm II. bestimmten Zeitgeists mit Sprüchen Nietzsches autorisierte. Viele, auch Philosophen (u.a. Bertram, Bäumler und zeitweise Heidegger), haben ihr beigepflichtet, der Sympathie Hitlers und Mussolinis konnte sie sich versichern. Über den Untertitel ist diese Begeisterung problemlos hinweggegangen. Als unumgängliche Eigenschaft erfolgreicher Politiker ist der Begriff „Wille zur Macht" auch heute noch nicht außer Kurs, allerdings seit 1945 mit Kautelen versehen: die Zwecke der Macht müssen gerechtfertigt, ihre Dauer muß begrenzt sein.  – Nietzsches Umwertung hat mit diesen Vereinnahmungen nichts zu tun, war aber zweideutig genug, um verwechselt zu werden. Statt, wie eigentlich vorgesehen, den Bereich moralischer Vorstellungen zu verlassen und den außermoralischen und außerreligiösen Gründen nachzuforschen, die das Verhalten der Individuen und den Gang der Geschichte bestimmen, sich also wirklich Jenseits der Moral zu begeben, bediente er sich eines Kunstgriffs, der wie eine moralische Selbstüberlistung seines kritischen Bewußtseins anmutet. Angesichts der Unvernunft moralischer Urteile erklärte er das bisher als böse Geächtete für gut. An die Stelle der experimentellen „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen" tritt in dieser Phase seines Philosophierens der Entwurf einer Gegenmoral. Und die funktioniert ganz analog der von ihm angegriffenen und für lebensfeindlich erklärten Moral, die nur durch Ideale gerechtfertigte Interessen zulassen will  – aber eben umgekehrt. Nicht das Ideal soll den Willen rechtferigen, sondern der starke Wille das Ideal: redlich, rechtschaffen, vertauenswürdig, pflichtbewußt kann das vornehme, souveräne Individuum sein, dem „mit der Herrschaft über sich auch die Herrschaft über die Umstände ... in die Hand gegeben ist" (Genealogie der Moral), ja sogar mitleidig darf es sein: „wenn ein solcher Mann, der von Natur Herr ist, ... Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Wert!" („Jenseits von Gut und Böse"). Und weil die Tugenden dieses vornehmen Herrn mit der herkömmlichen Moral so leicht verwechselt werden können, malte er dessen provozierend unmoralisches Bild aus archaischer Zeit: „die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende"
 
– blonde Bestie: Diese Provokation ist Nietzsche nicht geglückt. Das Wort flog schnell durch die Lande, hat Moralisten nicht aufgeschreckt, sondern abgestoßen und germanisch denkende Nationalisten nicht abgestoßen, sondern fasziniert. Nach 1945 hat es den Bemühungen, Nietzsche zu entnazifizieren, Nahrung gegeben und widerstanden, obwohl Nietzsches Individualismus, sein Anti-Antisemitismus und Staatsskeptizismus mit den Vorstellungen Hitlers kaum kompatibel erscheinen. Im Zusammenhang des Entwurfs einer Gegenmoral stehen auch die folgenden drei Wendungen:
 
– Gelobt sei, was hart macht: gehörte zum Vokabular faschistischer Turnlehrer, ist als geflügeltes Wort in den Umkleidekabinen von Sportvereinen aufzuspüren und überhaupt im sadistisch gefärbten Bereich der männlichen Erziehung, des Drills und Militärs  – oder aber der sexuellen Anspielung.  – Nietzsche meint die Rückwirkung der Widerstände des Wegs auf den Willen seiner Figur Zarathustra. Weniger verfänglich klingt die in den „Sprüchen und Pfeilen" der „Götzendämmerung" gefaßte Variante „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker".
 
– Herrenmoral und Sklavenmoral und Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral: gehören heute nicht mehr in einen aktuellen, sondern nur noch in den „klassischen Zitatenschatz". Die offensichtliche Parteinahme für die Herrenmoral hat in einer demokratischen Öffentlichkeit keinen Raum. Die hier ausgedrückte Verachtung der Masse, in der doch jeder als Individuum anerkannt sein will, mag sich niemand zu eigen machen.  – In dem von Nietzsche unterstellten Verhältnis des Herrn, der will, und des Sklaven, der soll, ist der allgemein verbindliche Maßstab vom Herrn gesetzt, alles Weitere ist eine Frage der Übersetzung des Maßstabs. Die Sklavenmoral ist die übersetzte Herrenmoral. Nietzsches Unterscheidung zweier Moralen ist also seine Fiktion, seine „Umwertung" nur das Negativ des von ihm kritisierten Idealismus des „Sklaven" bzw. „Herdentiers", das sich seine abhängige Lage als hochwertig zurechtlegt.
 
– Moralin: Der deutsche Volksmund hat dies Wort mit „sauer" zusammengesetzt und liegt damit ausnahmsweise nicht ganz falsch. Für Nietzsche, der für sich die „moralinfreie Tugend" des vornehmen Starken reklamiert, verbindet sich damit die Vorstellung der ‘Arzeney’, die die
 
– Moralprediger verabreichen: beim Volk ungeliebte Mahner, die nur predigen, was jedermann weiß, meist in Reaktion auf einen Verstoß. Bei Nietzsche sind sie eine Spezies von philosophischen „Seelenärzten" bzw. Theologen, die Unglück und Schmerz benutzen, um Lust und Leidenschaft als Grund aller Übel schlechtzureden.
 
– Gott ist tot: Diesen Spruch, von dem sich schon zahlreiche von der Kirche enttäuschte Gymnasiasten haben den Rücken stärken lassen, wollte das von Büchmann befragte „Volk" nicht so stehen lassen. Es hat sich unter Berufung auf den natürlichen Gang der Dinge in einer hämischen Umkehrung versucht und u. a. auf T-Shirts dagegengehalten: „Nietzsche ist tot (Gott)".  – Nietzsche bestreitet nicht einfach in Atheistenmanier die Existenz Gottes. Gott, nach Nietzsche ein „Gedanke" der Menschheit, stand während der vergangenen zweitausend Jahre für die Wahrheit. Dies habe sein Schicksal besiegelt. Die Entwicklung des christlichen Gewissens zu einem wissenschaftlichen habe alle Interpretationen von Natur und Geschichte als „beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung" unglaubwürdig gemacht.
 
– Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!: Diese Wendung hat sich eingebürgert als Bild des Eisenbahn spielenden Vaters, neben dem die Frau als Mutter, in Illustrierten blätternd, strickend oder als Hausfrau waltend, ihr Wesen treibt. Ein guter Spruch also fürs Poesiealbum von Ehewilligen. Er ist so rührend und verständnisheischend männerzentriert, daß kaum noch die Frage aufkommt, wieso bloß im Manne? Wollen die Frauen denn nicht, wie sie als Mädchen mit der Babypuppe spielen, später mit den Babys Puppe spielen? Psychoanalytiker schätzen den Spruch als Erinnerung an den im Schutze der Mutter spielenden Knaben, der sich als Mann dann ganz ungeschützt bewähren muß  – wenn nicht eine Frau das Kind in ihm entdeckt hat. Sie kommen damit der Weisheit Zarathustras schon näher, der der Ansicht ist, daß die Frau, in der Hoffnung einen „Übermenschen" zur Welt zu bringen, sich  – wo nicht als Mutter  – doch als „Spielzeug" des den Lebenskampf bestreitenden Mannes verstehen solle. Offensichtlich hat sich hier nicht im „geflügelten Wort" die banale Alltagsmoral eingeschlichen, sondern umgekehrt Nietzsche sich der üblichen Vorstellung von der Verteilung der Geschlechterrollen angenähert, indem er sie idealisierte. Weil Nietzsche sich mit seiner Kritik der Moral ausschließlich auf der psychologischen Ebene bewegt und mit seiner „Umwertung" genaue Gegenbilder der geltenden Moral hinzeichnet, fällt dem „alten Weiblein" als Antwort auf Zarathustras Sprüche auch nur der abschließende Tip ein:
 
– „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!: Da hilft es nichts, daß er diese Feministinnen provozierende Aufforderung, die gehörige Unterordnung der Frau mit der Androhung von Gewalt durchzusetzen, ganz privatissime durch die Unterschrift auf einem Photo umwertet, das ihn und Freund Paul Rée einem Leiterwägelchen vorgespannt zeigt, auf dem die befreundete Lou Salomé als peitschenschwingender Kutscher zu sehen ist: Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!

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  – Nietzsche, der sich alle Mühe gegeben hat, seiner durch das Gedankenexperiment bestimmten Kritik der Moral Gehör zu verschaffen, landete mit seiner prägnanten und gedächtnis-freundlichen Art der Darstellung zuletzt wieder dort, wovon er sich absetzen wollte: bei den landläufigen Überzeugungen. Die Mehrzahl seiner Leser, vor allem aber die  deutsche Öffentlichkeit, ordneten problemlos einzelne Urteile den ganz unterschiedlichen Bezugssystemen ihrer Wertschätzungen ein. Der Antisystematiker wurde so Teil jedes Systems.
 
– Mit dem Übergang von der Kritik, vom negativen Teil seiner Philosophie, zum Entwurf einer Gegenmoral, in der er sich  – ganz gegen die eigenen Bekundungen  – durchaus im Bereich diesseits von Gut und Böse bewegte, hat er sich die Mißverständnisse, atheistische und theologische, linke und rechte, auch noch redlich verdient.
 
– Mit seiner sich allein im Bereich der Psychologie bewegenden Umwertung erlag er überdies der Illusion derer, die er als Gegner begriff: die Geschichte der Menschheit würde
vom Kampf unterschiedlicher Wertlehren bestimmt, mit denen sich unterschiedliche Interessen darstellen und legitimieren, und seine „Umwertung aller Werte" sei der Hebel, diesen Gang entscheidend zu beeinflussen. Seine zuletzt forcierten Anstrengungen, diese für die Menschheit verbindlich zu machen („Ich bin Dynamit", „Wie man mit dem Hammer philosophiert", „Gedanken, die auf  Taubenfüßen kommen, regieren die Welt"), wurden durch die Geschichte seiner Wirksamkeit seit hundert Jahren eher parodiert.
 
– „Ich will kein Heiliger sein, ... : diesem in „Ecce homo" ausgesprochenen Wunsch ist man nur bedingt nachgekommen. Die „Papas der Nietzscheaner" (L. Marcuse) sowie die von Nietzsches Schwester inspirierten Wilhelministen, die er verachtete, und die Nationalsozialisten, die er verachtet hätte, haben ihn als Idol genutzt. Seine konkurrenzlose internationale Anerkennung als deutscher Intellektueller, dem Antisemitismus und Nationalismus ein Graus und die Einheit Europas eine Wünschbarkeit war, qualifizieren ihn ebenso als Markenzeichen eines wiedervereinigten Deutschland bei der europäischen Selbstdarstellung der Nation.
Einer „Umwertung aller Werte" bedurfte es dazu nicht.
 
– ...  lieber noch ein Hanswurst": Die zahlreichen, seit 1945 neben und nach Büchmann erschienenen Zitate-Lexika verzeichnen nicht nur landläufige, sondern bieten bis zu 420 Sprüche Nietzsches für alle Gelegenheiten. Sie benutzen Nietzsches Werk als Steinbruch zitierbaren Materials. Der Philosoph steht hier als anerkannter Dienstleister für zu belegende Meinungen (neben der Bibel, Siegfried Lowitz, Hegel, Peter Horton, Oliver Hassencamp, Marlene Dietrich, Horaz ... ). Mit den Sprüchen dieses ‘alten Wilden’ wird hier das Unverfängliche zum Ereignis  – geeignet auch für fun-surfing im Internet (unter: www.zitate.at). Dieser Spaß mit Nietzsche findet auch in zahlreichen Abwandlungen seiner Pointen Ausdruck, etwa in der Überschrift eines Berichts im lokalen Kulturteil einer Zeitung über ein Fußballmatch von Theatermannschaften: „Wenn Du zum Manne gehst, vergiss die Grätsche nicht" (SZ 28. 4. 2000).

Friedrich Nemec


Empfohlene Zitierweise:

Friedrich Nemec: Nietzsches geflügelte Worte. URL: </Nietzsches gefluegelte Worte.htm> [April 2000]