Nietzsches geflügelte Worte
oder wie Aussprüche eines Philosophen, der nichts unversucht ließ, durch seine Philosophie das Schicksal der Menschheit zu bestimmen, noch nach 100 Jahren im „deutschen Volke" wirken.
Der Gedanke,
„dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe",
war für Nietzsche „der große Befreier". Er ließ ihn
seinen Beruf als
Basler Philologe aufgeben und als philosophischer Einzelgänger mit
all den
damit einhergehenden Härten fortleben. In der Unterordnung des
Denkens unter
Berufs- und Familienzwänge, aber auch in den moralischen
Vorstellungen und den
Religionen sah er ein Hindernis für die Suche nach der Wahrheit:
„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als
Lügen"
– war seine Überzeugung. In der Lüge ist die Wahrheit
immer noch als
gewußte unterstellt und nicht verschwinden gemacht wie in der
moralischen
Rechtfertigung von Zuständen oder Taten. Er hat auch erklärt,
wie einer, der
sein Tun ständig an Überzeugungen mißt und sich in
diesen einrichtet, zu einem
moralisch einwandfreien Selbstbild kommt:
„‘Das habe ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‘Das kann ich
nicht
getan haben’
– sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt mein
Gedächtnis
nach."
In zwei Zeilen gibt Nietzsche hier eine Lehre, die Sigmund Freud in
zahlreichen
Büchern als Verdrängung beschrieben hat. Weil
Überzeugungen in Form von
Staatsdoktrinen, Welt-anschauungen, Religionen allgemein gelten, ging
Nietzsche
aufs Ganze und unterzog überkommene metaphysische Vorstellungen,
besonders die
christliche Lehre, einer psychologischen Analyse. Ihrer verborgenen
Wahrheit
versuchte er dabei methodisch durch die
„Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter
Gewohnheiten"
auf die Spur zu kommen. Die experimentelle Rückführung
traditioneller
Vorurteile auf die Selbstbilder der Individuen schien ihm konkreter,
redlicher
und näher an der Wahrheit als deren Ausarbeitung zum System, die
er bei der
Mehrzahl seiner Philosophen-Kollegen erblickte:
„Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit".
Dargestellt hat er seine Gedankenexperimente in der Form des
Aphorismus, die
sich der systematisierenden Ableitung aus dem Begriff sperrt und
Widersprüche
nicht scheut. Die anschauliche, metaphernfreudige, rhythmisch
geprägte,
pointenreiche und gedächtnisfreundliche Darstellungsart Nietzsches
befremdete
zunächst Fachkollegen, verschaffte ihm aber bald eine
interessierte Leserschaft
unter Literaten, Musikern und Künstlern. Nietzsches Wirkung auf
sie setzte oft
ein mit der Lektüre des in Bildern und Gleichnissen redenden
„Zarathustra"
oder der frühen moralkritischen Schriften. Vor allem die Figur des
„freien
Geistes", des von den Zwängen gesellschaftlicher Vorstellungen
befreiten
Außenseiters bot für sie die Möglichkeit einer
Identifikation. Der von
Fachjargon freie Stil, die Artistik in Theorie und Darstellung, die
Lizenz, der
etablierten Moral mit einer abweichenden Meinung kritisch zu begegnen,
sowie
die Vorstellung einer außerordentlichen öffentlichen
Bedeutsamkeit und
Wirksamkeit beflügelte die Aufnahme bei so verschiedenen
Persönlichkeiten wie
Hofmannsthal und Morgenstern, George und Musil, Mahler und
Strauß, Shaw und
Proust, Dix und Klee, Klinger und Beckmann, De Chirico und Munch, Benn
und
Rilke, Thomas Mann und Kafka, Heinrich Mann und Hamsun und vielen
anderen.
Bereits hier zeigt sich, was an der späteren Geschichte seiner
Wirkung deutlich
hervortritt: Der Vorzug dieser Darstellungsweise wurde auch zum Problem
ihrer
Aufnahme bei den Lesern. Die so einprägsamen Formulierungen
Nietzsches verloren
bei Leuten, deren Denken sich aus den unterschiedlichsten
Weltanschauungen und
Ideologien nährte, ihren Versuchscharakter. Aus dem Zusammenhang
der „Experimental-Philosophie"
gelöst ließen sich Nietzsches Formeln unschwer dem
jeweiligen System zu-
bzw. der jeweiligen Weltanschauung einordnen. Dieser durchs
Mißverständnis
veranlaßte Mißbrauch wurde schließlich während
der NS-Zeit offiziell.
Nietzsches Sprüche, Aphorismen und Werke wurden, wie es der
Untertitel für den „Zarathustra"
ankündigt, nun wirklich „für alle und keinen".
*
Gerade ihrer Einprägsamkeit wegen hat sich für Nietzsches
Äußerungen früh schon
ein Wirkungs-bereich jenseits der Literatur in der Öffentlichkeit
aufgetan: die
mündliche Kultur des erbaulichen Gesprächs, des
religiösen Zweifels, der
politischen Konkurrenz, der weltanschaulichen Polemik usf. Was sich
hier von
Nietzsche festgesetzt hat, wurde zuerst wiederum literarisch
dokumentiert in Georg
Büchmanns „Geflügelte Worte, Zitatenschatz des deutschen
Volkes". Büchmann
sammelte und kommentierte Zitate, deren Urheber nachweisbar waren und
deren
dauernder allgemeiner Gebrauch für ihn fest stand. In den Ausgaben
1900 bis
1945 wurde wenig, in denen bis 1998 nicht viel geändert, zuletzt
der Untertitel
der Sammlung in „der klassische Zitatenschatz", weil er sich auf
historisches Material beschränkt und die nationalen Grenzen nicht
mehr
akzentuieren will. Die in Nietzsches Todesjahr erschienene Ausgabe
benennt:
Übermensch (Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll)
(„Also sprach
Zarathustra" u. a.); Jenseits von Gut und Böse
(Werktitel); Herren-Moral
und Sklavenmoral ( „Jenseits von Gut und
Böse"); Herdentier-Moral (ebenda) ; blonde Bestie
(„Genealogie der
Moral"). 1910 sind hinzugekommen: Der Wille zur Tat („Richard
Wagner
in Bayreuth"); Menschliches Allzumenschliches (Werktitel);
Der
Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte (Entwurf eines
Werktitels). Nach 1945 wurden hinzugefügt: Im ächten Manne
ist ein Kind
versteckt: das will spielen, Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das
Kind im
Manne! („Also sprach Zarathustra"); Du gehst zu Frauen? Vergiß
die
Peitsche nicht! (ebenda); Gelobt sei, was hart macht (ebenda);
Moralprediger („Die
Fröhliche Wissenschaft"); Moralin („Antichrist"). In neueren
Ausgaben
(zuletzt 1998) erscheint auch Gott ist tot („Also sprach Zarathustra").
Zum „geflügelten Wort" wurden also überwiegend
Äußerungen der Zeit nach
1882, der Periode der konstruktiven Entwürfe.
Daß solche Sprüche Nietzsches bereits 1900 zu allgemein
gebräuchlichen
Wendungen geworden waren, bedeutet sicher nicht, daß das
„deutsche Volk"
sich seine Moralkritik zueigen gemacht hätte, eher schon,
daß es keine Mühe
hatte, Nietzsches Formeln für traditionelle Vorstellungen nutzbar
zu machen.
Die Nachweise Büchmanns führen sie auf die Texte zurück
und nennen womöglich
Quellen und Vorbilder, lassen aber die unterstellte Veränderung
des Sinns meist
unangetastet. Doch der Reihe nach:
– Der Wille zur Tat: Weshalb diese ausdrückliche,
tautologische
Hervorhebung einer im Willen unterstellten allgemeinen Absicht zu
Handeln? Der
Kommentar von 1910 verweist dazu auf eine Thronrede Kaiser Wilhelms II
zur
Neuwahl des Reichstags 1907 als Beleg des Zeitgeistes. Diese offen
nationalistische Vereinnahmung durch den Büchmann-Herausgeber
wurde in späteren
Auflagen durch den Hinweis auf den Gebrauch dieser Wendung bei
Schopenhauer
ersetzt. Nietzsche charakterisiert damit in der vierten
Unzeitgemäßen Betrachtung
die von der Universalität seiner Bildung nicht gestörte
Kreativität Richard
Wagners, bezieht sich also auf kulturspezifische Hemmungen des Willens.
– Menschliches Allzumenschliches: Der Titel der 1878/79
erschienenen
Schrift gilt als Entschuldigung schlechthin für verständliche
Entgleisungen des
Anstands, für alles, was – in Grenzen – gegen das
Gute, Wahre und
Schöne verstößt und der „tierischen" Natur des Menschen
zugerechnet wird
wie Rülpsen und Furzen. – Nietzsche dagegen bezieht sich
gerade auf den
Idealismus des Wahren, Guten und Schönen, der ihm zuwider war. Das
Verhalten
moralischer Menschen ließ für ihn Rückschlüsse auf
ihre Ideale zu. Ein Mensch,
der sich an Idealen orientiert, behandelt sich nach Nietzsche
„nicht als
individuum, sondern als dividuum", handelt also nach zweierlei
Maß: seinem
Bedürfnis und dessen Einschränkung. Er kommt zu einem „guten
Gewissen"
über die Selbstverleugnung oder indirekt über die Reue. Diese
„Selbstzerteilung"
ist nach Nietzsche nicht als Mißbrauch der Moral zu verstehen,
weil die
Verdopplung zur Moral gehört. So unterstellt das Hochhalten des
Altruismus im
Prinzip den Schaden des Selbstlosen und das Akzeptieren dieses
Schadens, also
den Egoismus. Die Virtuosität im Umdeuten, des „Übels in ein
Gut, dessen Nutzen
vielleicht erst später ersichtlich sein wird" (der Schwäche
zum Verdienst,
der Ohnmacht zu Güte, der Niedrigkeit zur Demut, der Unterwerfung
zum Gehorsam)
verstand Nietzsche als Kulturkrankheit, als Behinderung
erkenntnisbestimmter
Betätigung, deren Ausprägung er besonders der Religion
anlastete: „Je mehr die
Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so
strenger
fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Übel ins Auge".
– Übermensch: Büchmann kommentiert hier am
ausführlichsten und weist
begriffliche Entsprechungen von Homer bis Goethe und Otto Julius
Bierbaum nach.
Gleich zu Beginn erwähnt er, in welchem Sinn dieser Begriff in
Deutschland „geflügelt"
wurde: die Vorstellung eines rücksichtslosen Gewaltmenschen. Mit
Hilfe des vollständigen
Satzes aus dem Zarathustra: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der
Mensch ist
etwas, das überwunden werden soll." macht Büchmann dagegen
geltend, es
handle sich hier nicht um den Vertreter einer „Herren-Moral",
vielmehr
„nur" um „eine höhere, ideale Stufe des Menschen". Diese mit dem
Idealismus gebildeter Leser kalkulierende Richtigstellung hat keinen
der vom
jeweiligen Zeitgeist inspirierten Benutzer dieses Worts davon
abgehalten,
seiner „geflügelten" Version den Vorzug zu geben. Sie sehen in ihm
den „ästhetisierenden
Athleten" oder gar den „Prototyp einer ‘Herrenrasse’", wie sich noch
der Herausgeber der kritischen Ausgabe Mazzino Montinari beklagt,
oder –
vom entgegengesetzten moralischen Urteil diktiert – einen
präpotenten
Popanz , den keine Bescheidenheit ziert. Der Geschmack an der positiven
Verwendung dieses Ausdrucks ist in jüngerer Zeit als Folge einer
gelungenen
Entnazifizierung des Vokabulars geschwunden.
– Jenseits von Gut und Böse: Auch diese Wendung hat sich der
bürgerliche
Alltag assimiliert. Schlimm: einer wird nicht mehr ernst genommen,
weder
geistig noch sexuell, er ist ausgegrenzt; angenehm: einer ist
außer Konkurrenz
und kann sich einiges herausnehmen. Jenseits von Gut und Böse
befindet sich
also der Beurteilte nicht der Beurteilende. Dagegen pflegte Nietzsche
die
Hoffnung, mit der Destruktion moralischer Ideale sich und anderen ein
Feld
erkenntnisbestimmten Tuns zu eröffnen: „’moralische
Vorurteile’[Untertitel der
Schrift Morgenröte], falls sie nicht Vorurteile über
Vorurteile sein sollen,
setzen eine Stellung außerhalb der Moral voraus, irgendein
Jenseits von Gut und
Böse" heißt es gegen Ende seiner „Fröhlichen
Wissenschaft". Diese
Position hat Nietzsche, wie im folgenden Punkt deutlich wird, auf
merkwürdige
Weise bezogen:
– Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte: Ehe
Montinari
nachwies, daß der hier angedeutete Gedanke in den von Nietzsche
unter anderen
Titeln veröffentlichten Werken ausgeführt wurde, galt „Der
Wille zur
Macht" auch Büchmann als ein „1886 begonnenes, nicht
vollendetes
Werk". Die rechtsradikale Schwester des Philosophen war vom Titel
„Wille
zur Macht" so begeistert, daß sie aus Nachlaßnotizen, die
nicht ins Werk
eingegangen waren, ein Buch Nietzsches schneiderte, mit Erfolg
vermarktete und
die Meinung des zunächst von Bismark und Kaiser Willhelm II.
bestimmten
Zeitgeists mit Sprüchen Nietzsches autorisierte. Viele, auch
Philosophen (u.a.
Bertram, Bäumler und zeitweise Heidegger), haben ihr
beigepflichtet, der
Sympathie Hitlers und Mussolinis konnte sie sich versichern. Über
den
Untertitel ist diese Begeisterung problemlos hinweggegangen. Als
unumgängliche
Eigenschaft erfolgreicher Politiker ist der Begriff „Wille zur Macht"
auch
heute noch nicht außer Kurs, allerdings seit 1945 mit Kautelen
versehen: die
Zwecke der Macht müssen gerechtfertigt, ihre Dauer muß
begrenzt sein. –
Nietzsches Umwertung hat mit diesen Vereinnahmungen nichts zu tun, war
aber
zweideutig genug, um verwechselt zu werden. Statt, wie eigentlich
vorgesehen,
den Bereich moralischer Vorstellungen zu verlassen und den
außermoralischen und
außerreligiösen Gründen nachzuforschen, die das
Verhalten der Individuen und
den Gang der Geschichte bestimmen, sich also wirklich Jenseits der
Moral zu
begeben, bediente er sich eines Kunstgriffs, der wie eine moralische
Selbstüberlistung seines kritischen Bewußtseins anmutet.
Angesichts der
Unvernunft moralischer Urteile erklärte er das bisher als
böse Geächtete für
gut. An die Stelle der experimentellen „Umkehrung gewohnter
Wertschätzungen"
tritt in dieser Phase seines Philosophierens der Entwurf einer
Gegenmoral. Und
die funktioniert ganz analog der von ihm angegriffenen und für
lebensfeindlich
erklärten Moral, die nur durch Ideale gerechtfertigte Interessen
zulassen
will – aber eben umgekehrt. Nicht das Ideal soll den Willen
rechtferigen,
sondern der starke Wille das Ideal: redlich, rechtschaffen,
vertauenswürdig,
pflichtbewußt kann das vornehme, souveräne Individuum sein,
dem „mit der
Herrschaft über sich auch die Herrschaft über die
Umstände ... in die Hand
gegeben ist" (Genealogie der Moral), ja sogar mitleidig darf es sein:
„wenn
ein solcher Mann, der von Natur Herr ist, ... Mitleiden hat, nun! dies
Mitleiden hat Wert!" („Jenseits von Gut und Böse"). Und weil die
Tugenden dieses vornehmen Herrn mit der herkömmlichen Moral so
leicht
verwechselt werden können, malte er dessen provozierend
unmoralisches Bild aus
archaischer Zeit: „die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern
schweifende"
– blonde Bestie: Diese Provokation ist Nietzsche nicht
geglückt. Das Wort
flog schnell durch die Lande, hat Moralisten nicht aufgeschreckt,
sondern
abgestoßen und germanisch denkende Nationalisten nicht
abgestoßen, sondern
fasziniert. Nach 1945 hat es den Bemühungen, Nietzsche zu
entnazifizieren,
Nahrung gegeben und widerstanden, obwohl Nietzsches Individualismus,
sein
Anti-Antisemitismus und Staatsskeptizismus mit den Vorstellungen
Hitlers kaum
kompatibel erscheinen. Im Zusammenhang des Entwurfs einer Gegenmoral
stehen
auch die folgenden drei Wendungen:
– Gelobt sei, was hart macht: gehörte zum Vokabular
faschistischer
Turnlehrer, ist als geflügeltes Wort in den Umkleidekabinen von
Sportvereinen
aufzuspüren und überhaupt im sadistisch gefärbten
Bereich der männlichen
Erziehung, des Drills und Militärs – oder aber der sexuellen
Anspielung. – Nietzsche meint die Rückwirkung der
Widerstände des Wegs
auf den Willen seiner Figur Zarathustra. Weniger verfänglich
klingt die in den „Sprüchen
und Pfeilen" der „Götzendämmerung" gefaßte Variante
„Was mich nicht umbringt,
macht mich stärker".
– Herrenmoral und Sklavenmoral und Moral ist heute in Europa
Herdentier-Moral: gehören heute nicht mehr in einen aktuellen,
sondern nur noch
in den „klassischen Zitatenschatz". Die offensichtliche Parteinahme
für
die Herrenmoral hat in einer demokratischen Öffentlichkeit keinen
Raum. Die
hier ausgedrückte Verachtung der Masse, in der doch jeder als
Individuum
anerkannt sein will, mag sich niemand zu eigen
machen. – In dem von Nietzsche unterstellten Verhältnis des
Herrn, der
will, und des Sklaven, der soll, ist der allgemein verbindliche
Maßstab vom
Herrn gesetzt, alles Weitere ist eine Frage der Übersetzung des
Maßstabs. Die
Sklavenmoral ist die übersetzte Herrenmoral. Nietzsches
Unterscheidung zweier
Moralen ist also seine Fiktion, seine „Umwertung" nur das Negativ des
von
ihm kritisierten Idealismus des „Sklaven" bzw. „Herdentiers", das
sich seine abhängige Lage als hochwertig zurechtlegt.
– Moralin: Der deutsche Volksmund hat dies Wort mit „sauer"
zusammengesetzt und liegt damit ausnahmsweise nicht ganz falsch.
Für Nietzsche,
der für sich die „moralinfreie Tugend" des vornehmen Starken
reklamiert, verbindet
sich damit die Vorstellung der ‘Arzeney’, die die
– Moralprediger verabreichen: beim Volk ungeliebte Mahner, die
nur
predigen, was jedermann weiß, meist in Reaktion auf einen
Verstoß. Bei
Nietzsche sind sie eine Spezies von philosophischen „Seelenärzten"
bzw.
Theologen, die Unglück und Schmerz benutzen, um Lust und
Leidenschaft als Grund
aller Übel schlechtzureden.
– Gott ist tot: Diesen Spruch, von dem sich schon zahlreiche von
der
Kirche enttäuschte Gymnasiasten haben den Rücken stärken
lassen, wollte das von
Büchmann befragte „Volk" nicht so stehen lassen. Es hat sich unter
Berufung auf den natürlichen Gang der Dinge in einer
hämischen Umkehrung
versucht und u. a. auf T-Shirts dagegengehalten: „Nietzsche ist tot
(Gott)". – Nietzsche bestreitet nicht einfach in Atheistenmanier
die
Existenz Gottes. Gott, nach Nietzsche ein „Gedanke" der Menschheit,
stand
während der vergangenen zweitausend Jahre für die Wahrheit.
Dies habe sein
Schicksal besiegelt. Die Entwicklung des christlichen Gewissens zu
einem
wissenschaftlichen habe alle Interpretationen von Natur und Geschichte
als „beständiges
Zeugnis einer sittlichen Weltordnung" unglaubwürdig gemacht.
– Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.
Auf, ihr
Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!: Diese Wendung hat sich
eingebürgert als Bild des Eisenbahn spielenden Vaters, neben dem
die Frau als
Mutter, in Illustrierten blätternd, strickend oder als Hausfrau
waltend, ihr
Wesen treibt. Ein guter Spruch also fürs Poesiealbum von
Ehewilligen. Er ist so
rührend und verständnisheischend männerzentriert,
daß kaum noch die Frage
aufkommt, wieso bloß im Manne? Wollen die Frauen denn nicht, wie
sie als
Mädchen mit der Babypuppe spielen, später mit den Babys Puppe
spielen?
Psychoanalytiker schätzen den Spruch als Erinnerung an den im
Schutze der
Mutter spielenden Knaben, der sich als Mann dann ganz ungeschützt
bewähren
muß – wenn nicht eine Frau das Kind in ihm entdeckt hat.
Sie kommen damit
der Weisheit Zarathustras schon näher, der der Ansicht ist,
daß die Frau, in
der Hoffnung einen „Übermenschen" zur Welt zu bringen, sich
– wo
nicht als Mutter – doch als „Spielzeug" des den Lebenskampf
bestreitenden Mannes verstehen solle. Offensichtlich hat sich hier
nicht im „geflügelten
Wort" die banale Alltagsmoral eingeschlichen, sondern umgekehrt
Nietzsche
sich der üblichen Vorstellung von der Verteilung der
Geschlechterrollen
angenähert, indem er sie idealisierte. Weil Nietzsche sich mit
seiner Kritik
der Moral ausschließlich auf der psychologischen Ebene bewegt und
mit seiner „Umwertung"
genaue Gegenbilder der geltenden Moral hinzeichnet, fällt dem
„alten
Weiblein" als Antwort auf Zarathustras Sprüche auch nur der
abschließende
Tip ein:
– „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!: Da hilft
es nichts,
daß er diese Feministinnen provozierende Aufforderung, die
gehörige
Unterordnung der Frau mit der Androhung von Gewalt durchzusetzen, ganz
privatissime durch die Unterschrift auf einem Photo umwertet, das ihn
und
Freund Paul Rée einem Leiterwägelchen vorgespannt zeigt,
auf dem die
befreundete Lou Salomé als peitschenschwingender Kutscher zu
sehen ist: Wenn du
zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!
– Nietzsche, der sich alle Mühe gegeben hat, seiner durch
das
Gedankenexperiment bestimmten Kritik der Moral Gehör zu
verschaffen, landete
mit seiner prägnanten und gedächtnis-freundlichen Art der
Darstellung zuletzt
wieder dort, wovon er sich absetzen wollte: bei den landläufigen
Überzeugungen.
Die Mehrzahl seiner Leser, vor allem aber die deutsche
Öffentlichkeit,
ordneten problemlos einzelne Urteile den ganz unterschiedlichen
Bezugssystemen
ihrer Wertschätzungen ein. Der Antisystematiker wurde so Teil
jedes Systems.
– Mit dem Übergang von der Kritik, vom negativen Teil seiner
Philosophie,
zum Entwurf einer Gegenmoral, in der er sich – ganz gegen die
eigenen
Bekundungen – durchaus im Bereich diesseits von Gut und Böse
bewegte, hat
er sich die Mißverständnisse, atheistische und theologische,
linke und rechte,
auch noch redlich verdient.
– Mit seiner sich allein im Bereich der Psychologie bewegenden
Umwertung
erlag er überdies der Illusion derer, die er als Gegner begriff:
die Geschichte
der Menschheit würde
vom Kampf unterschiedlicher Wertlehren bestimmt, mit denen sich
unterschiedliche Interessen darstellen und legitimieren, und seine
„Umwertung
aller Werte" sei der Hebel, diesen Gang entscheidend zu beeinflussen.
Seine zuletzt forcierten Anstrengungen, diese für die Menschheit
verbindlich
zu machen („Ich bin Dynamit", „Wie man mit dem Hammer philosophiert",
„Gedanken, die auf Taubenfüßen kommen, regieren die
Welt"), wurden
durch die Geschichte seiner Wirksamkeit seit hundert Jahren eher
parodiert.
– „Ich will kein Heiliger sein, ... : diesem in „Ecce homo"
ausgesprochenen Wunsch ist man nur bedingt nachgekommen. Die „Papas der
Nietzscheaner" (L. Marcuse) sowie die von Nietzsches Schwester
inspirierten Wilhelministen, die er verachtete, und die
Nationalsozialisten,
die er verachtet hätte, haben ihn als Idol genutzt. Seine
konkurrenzlose
internationale Anerkennung als deutscher Intellektueller, dem
Antisemitismus
und Nationalismus ein Graus und die Einheit Europas eine
Wünschbarkeit war,
qualifizieren ihn ebenso als Markenzeichen eines wiedervereinigten
Deutschland
bei der europäischen Selbstdarstellung der Nation.
Einer „Umwertung aller Werte" bedurfte es dazu nicht.
– ... lieber noch ein Hanswurst": Die zahlreichen, seit
1945
neben und nach Büchmann erschienenen Zitate-Lexika verzeichnen
nicht nur
landläufige, sondern bieten bis zu 420 Sprüche Nietzsches
für alle
Gelegenheiten. Sie benutzen Nietzsches Werk als Steinbruch zitierbaren
Materials. Der Philosoph steht hier als anerkannter Dienstleister
für zu
belegende Meinungen (neben der Bibel, Siegfried Lowitz, Hegel, Peter
Horton,
Oliver Hassencamp, Marlene Dietrich, Horaz ... ).
Mit
den Sprüchen dieses ‘alten Wilden’ wird hier das
Unverfängliche zum Ereignis
– geeignet auch für fun-surfing im Internet (unter:
www.zitate.at). Dieser Spaß
mit Nietzsche findet auch in zahlreichen Abwandlungen seiner Pointen
Ausdruck,
etwa in der Überschrift eines Berichts im lokalen Kulturteil einer
Zeitung über
ein Fußballmatch von Theatermannschaften: „Wenn Du zum Manne
gehst, vergiss die
Grätsche nicht" (SZ 28. 4. 2000).
Friedrich
Nemec
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich
Nemec:
Nietzsches geflügelte Worte. URL: </Nietzsches
gefluegelte Worte.htm> [April 2000]